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28. April 2025

Nichts darf jemals digitale Hetzjagden rechtfertigen: Wie digitale Lynchjustiz Menschen und Demokratien zerstört

Von Kristina Lunz

„Stimmt das wirklich?“, steht in riesigen Buchstaben auf dem Plakat eines Mobilfunkanbieters an einem Berliner S-Bahnhof. Ich warte auf meine Bahn. Es ist kalt, regnerisch, November 2024 – mitten in der Eskalation. Drei Wochen nach unserer Frauenrechtspressekonferenz, auf die eine Welle der digitalen Gewalt folgte, wie ich sie zuvor noch nie erlebt hatte. Etwas kleiner steht darunter: „Hinterfragen ist wichtig. Denn Falschinformationen im Netz sind brandgefährlich.“

Falschinformationen im Netz, digitale Hetzjagden – sie sind tatsächlich brandgefährlich. Sie können Existenzen zerstören – und Demokratien. Als ich das Plakat lese, ist genau das meine Realität. Vor einigen Jahren schrieb die nigerianisch-US-amerikanische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie in ihrem großartigen Essay It Is Obscene über eine gegen sie gerichtete Verleumdungskampagne: „Wenn man eine Person des öffentlichen Lebens ist, werden Menschen falsche Dinge über einen sagen und schreiben. […] Vieles ignoriert man. Menschen im engsten Umfeld raten einem, zu schweigen – und oft ist das auch richtig. Manchmal aber lässt Schweigen eine Lüge wie Wahrheit erscheinen. In Zeiten sozialer Medien, in denen sich Geschichten in Minuten um die Welt verbreiten, bedeutet Schweigen manchmal, dass andere deine Geschichte kapern – und ihre falsche Version plötzlich als die einzig wahre über dich gilt.“

Mit diesem Text möchte ich meine Geschichte teilen. Ich möchte mich gegen jede Form von Dogmatismus und autoritärem Verhalten positionieren und zur Debatte über Schutz und Prävention digitaler Gewalt beitragen. Und ich möchte auf die erschütternde Ungerechtigkeit aufmerksam machen, die viele Betroffene – insbesondere Frauen – erleben, wenn es keinerlei Möglichkeit auf Gerechtigkeit gibt: Wenn sich Social Media Plattformen jeder Verantwortung entziehen. Und wenn juristische Prozesse ins Leere laufen, weil der Angreifer im Ausland sitzt.

Stimmt das Wirklich Plakat Kampagne
Das Plakat, das auf die Gefahren von Desinformation hinweist.

Eine Pressekonferenz für Frauenrechte – und ein Sturm der digitalen Gewalt

Im Oktober 2024 veranstaltete meine gemeinnützige Organisation, das Centre for Feminist Foreign Policy (CFFP) gGmbH, die ich 2018 mit Nina Bernarding in Berlin gegründet habe, gemeinsam mit der Menschenrechtsorganisation HÁWAR.help e.V. eine Pressekonferenz in Berlin-Mitte. Es ging uns um zwei politisch hochaktuelle Themen, das Motto lautete: „Femizide verhindern. Abtreibungen legalisieren. Wir alle für Frauenrechte.“ Mehr als zwanzig Sprecherinnen unterschiedlichster ethnischer und kultureller Hintergründe – darunter Anwältinnen, Ärztinnen, Mitarbeiterinnen von Frauenhäusern, Schauspielerinnen, queere Aktivistinnen und nicht zuletzt Betroffene – standen auf der Bühne. Sie teilten bewegende persönliche Geschichten von sich oder anderen – darunter Schilderungen schwerster Gewalt bis hin zu versuchten Femiziden. Und sie leiteten daraus deutliche politische Forderungen ab: nach einer neuen gesetzlichen Regelung von Abtreibungen außerhalb des Strafgesetzbuchs und nach einem Gewaltschutzgesetz (letzteres wurde im Februar 2025 endlich verabschiedet). Unter den Sprecherinnen war auch die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock, zu diesem Zeitpunkt eine der einflussreichsten deutschen Politiker:innen, die sich öffentlich für die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen stark machte. Hunderte Personen nahmen vor Ort teil, Tausende erreichten wir online.

Frauenrechtepressekonferenz
Wir, die Veranstalterinnen, gemeinsam mit den Sprecherinnen unserer Frauenrechtspressekonferenz.

Während der Pressekonferenz erhob sich kurz nach der Rede der Außenministerin eine Frau, die lautstark gegen die deutsche Politik gegenüber Israel protestierte. Ich wies sie in meiner Rolle als Moderatorin darauf hin, dass ihre Punkte wichtig seien, ich die Diskussion aber ans Ende in die Fragerunde verschieben würde. Schon kurz darauf kursierte ein Reel mit manipulativer Caption. Darin war ich die Person, der das Leid der Menschen in Gaza egal war. Die sich mit den Menschen in Gaza Solidarisierende sei gesilenced worden. Dass ich und wir uns als Center bereits mehrfach öffentlich für einen Waffenstillstand in Nahost und das Ende der Gewalt gegen Zivilist:innen ausgesprochen hatten? Wiederholt auf die Situation der Frauen und Kinder im Kriegsgebiet aufmerksam gemacht hatten? Dass man in dem Video hören konnte, was ich tatsächlich gesagt hatte, dass die Caption des Reels eine völlige Verdrehung der Realität war? Für die Mobilisierung von Hass auf Instagram spielte das alles keine Rolle. Derartige „Empörungsprodukte” sind die perfekte Cash-Cow für die Plattformen: Nichts verbreitet sich schneller als Wut und Entrüstung.[1]

Besonders seit dem Terrorangriff der Hamas im Oktober 2023 wurde die Stimmung in den sozialen Medien nahezu unerträglich. Jeder Versuch, etwa auf Instagram, Empathie oder Mitgefühl für Jüdinnen, Juden oder Israelis auszudrücken, wurde mit heftigen Angriffen quittiert – häufig gipfelnd in dem Vorwurf, man lasse Palästinenser:innen im Stich. Und das ist noch zurückhaltend formuliert. Umgekehrt lösten Beiträge, die Mitgefühl für Palästinenser:innen zeigten, teils massive Vorwürfe aus – dann lautete die Unterstellung, man verrate Jüdinnen und Juden. Diese Fußballspiel-Mentalität lässt auf Social Media kaum noch Raum für die einfache Wahrheit, dass auf beiden Seiten gleichzeitig Leid erfahren und Gewalt ausgeübt werden kann. Die performative Empörung hat die politische Differenzierung unter sich begraben. Ich wurde von den einen als „Israel-Hasserin“ und von den anderen als „Genozid-Unterstützerin“ beschimpft – innerhalb kürzester Zeit. Ich sehe das so: Wenn wir um bestimmte menschliche Leben mehr trauern als um andere, ausgehend von den Handlungen der Regierungen dieser Menschen oder auch der Haltung unserer eigenen Regierung, dann hat die Propaganda gewonnen.

Dieses Reel anlässlich der Pressekonferenz war erst der Anfang. In der digitalen Nachschau wurden wir, die Veranstalterinnen, mit immer absurderen Lügen überzogen – etwa, sie sei mit Steuergeldern finanziert worden, wir hätten die Sprecherinnen bezahlt oder Hotelkosten (in Höhe mehrerer Tausend Euro) übernommen. Tausende Hass-Likes, Hass-Kommentare und verleumderische Instagram-Stories. Was folgte, war eine wochenlange Welle aus Verleumdungen, Hetze und Bedrohungen – ein orchestrierter Versuch, uns öffentlich zu zerstören. Digitale Lynchjustiz. Es war Machtmissbrauch – ich war ein durch die digitale Welt geschleudertes Objekt in der Hand derer, die auf meine Kosten Aufmerksamkeit generierten. Die sich in der Anarchie des Netzes sicher genug fühlten, rechtsstaatliche Prinzipien und grundsätzliche Regeln des Anstands zu ignorieren. Anderen ging es sicher ähnlich. Dass wir Frauen sind, machte das Spektakel erst so richtig scharf. Reels und Instagram-Stories, die diese massive Hetz antrieben, basierten auf infamen Lügen, rissen Fakten simplifizierend aus dem Kontext und verzerrten die Realität. Perfekte Zutaten, um die Algorithmen sozialer Netzwerke zu füttern.

Kein Shitstorm, sondern digitale Lynchjustiz

Zu Beginn glaubte ich noch, ich wüsste, was da passiert. Seit über einem Jahrzehnt stehe ich mit feministischen Themen in der Öffentlichkeit – ich kenne digitale Gewalt. Ob im Kontext meiner Kampagne gegen Sexismus in der Bild-Zeitung 2014, meines Engagements für die Reform des deutschen Sexualstrafrechts (Nein heißt Nein) 2016, meiner Arbeit zu feministischer Außenpolitik oder schlicht, weil ich eine erfolgreiche feministische Frau mit Haltung bin – Online-Hass begleitet mich seit Jahren.

Doch im Oktober 2024 eskalierte diese Gewalt auf eine Weise, die alles überstieg, was ich und wir bisher erlebt hatten. Die Gewalt und der Frauenhass, den unsere Pressekonferenz aufzeigen und bekämpfen wollte, richteten sich nun mit voller Wucht gegen unser Team, uns als Geschäftsführung und mich persönlich. Boykottaufrufe, Lügen, Diffamierungen, Beleidigungen, Drohungen – und sie wurde von einer kleinen, aber wirkmächtigen Minderheit angefacht.

Schon am ersten Tag schrieb mir ein Follower: „Es ist unglaublich, wie eure Arbeit angegriffen wird. Ich wurde, sobald ich diese [Solidaritäts-]Story gepostet hatte, ebenfalls angegriffen. Das ist eine richtige Hetzjagd, die ihr erlebt.” Weder er noch ich ahnten, was folgen würde.

Rückblickend sehe ich es klar. Es geschah, was Frauen in der Öffentlichkeit auf der ganzen Welt kennen: Ein Hassobjekt wurde erschaffen. Und es sollte vernichtet werden.

Die Vorwürfe – „weißer Feminismus“, Missbrauch von Steuergeldern, Silencing bei der Pressekonferenz – sind infam und lassen sich leicht entkräften: Rechnungen, Spendenbescheinigungen und Videomitschnitte sprechen eine eindeutige Sprache. Doch in der Logik digitaler Gewalt zählen keine Belege. Es reicht, Dreck zu werfen – in der Hoffnung, dass etwas hängen bleibt.

Der Vorwurf des „weißen Feminismus“ wiegt schwer – nicht, weil er zuträfe, sondern weil er ein ernstes politisches Thema instrumentalisiert. Der Begriff steht für eine reale Problematik innerhalb feministischer Bewegungen, in denen marginalisierte Perspektiven durch weiße Feministinnen übergangen oder unsichtbar gemacht werden. Genau deshalb ist die Auseinandersetzung mit Machtverhältnissen innerhalb des Feminismus ein konstitutiver Bestandteil unserer Arbeit beim CFFP. Intersektionalität – also das Erkennen des Zusammenspiels unterschiedlicher Diskriminierungsdimensionen wie Geschlecht, Herkunft und soziale Klasse – ist seit Beginn eine unserer Leitlinien und Teil unseres Anspruchs. Völlig erreicht kann das gleichzeitige Mitdenken aller Unterdrückungsformen – auch von uns – wohl nie werden, aber es sollte der Anspruch bleiben.

Die intersektionale Analyse prägt seit Jahren unsere Publikationen, Projekte und unser politisches Selbstverständnis. Schwierig wird es, wenn Intersektionalität selbst instrumentalisiert wird – und der Vorwurf des „weißen Feminismus“ all jenen gemacht wird, die nicht exakt dieselbe Haltung vertreten wie eine vermeintliche Meinungsführerschaft, die in Fußballspiel-Binaritäten denkt. Ich habe mich seit dem 7. Oktober in Situationen wiedergefunden, in denen ich als „weiße Feministin“ bezeichnet wurde – weil ich beispielsweise auf die sexualisierte Gewalt der Hamas an Jüdinnen hingewiesen habe. In der Argumentation der Gegenseite hieß es, ich würde damit israelische Kriegspropaganda verbreiten – und so die Menschen in Gaza im Stich lassen. Schwarz-weiß.

Ich will das an einer aktuellen Studie aus Großbritannien der Organisation More in Common verdeutlichen, die sich in mehreren Ländern für gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Stärkung demokratischer Kulturen engagiert. Darin wird gezeigt, dass sogenannte progressive activists dazu neigen, in ihren Kampagnen eine vollständige ideologische Übereinstimmung zu verlangen. Da die öffentliche Meinung selten entlang festgelegter ideologischer Linien verlaufe, fielen viele mögliche Allianzen in der Sache aus. Dieser Starrsinn führe dazu, dass progressive Bewegungen kaum anschlussfähig und oft durch interne Konflikte lahmgelegt seien. Oder, um es mit Rutger Bregman zu sagen: „Auf diese Weise erhalten Sie eine Bewegung, die zu 100 Prozent rein, aber zu 0 Prozent effektiv ist.“ Eine Organisation wird also so zur Zielscheibe, wenn sie nicht ausschließlich und exakt so arbeitet, wie es eine selbsternannte Führungsriege von progressive activists fordert.

Ich hingegen positioniere mich – nachzulesen in meinem Buch Empathie und Widerstand – gegen ideologischen Dogmatismus. Auch unsere Pressekonferenz war ein Beispiel dafür. Wir luden Außenministerin Annalena Baerbock wegen ihrer Expertise und Haltung in den von uns thematisierten Frauenrechtsfragen ein, obwohl wir die Waffenexporte der Bundesregierung an Israel – und damit auch die Außenministerin – immer wieder öffentlich kritisiert hatten. Beides ist gleichzeitig möglich. Dieses Vorgehen steht für einen differenzierten, kompromissbereiten und zugleich prinzipiengeleiteten politischen Ansatz, wie wir ihn beim CFFP verfolgen. Denn wenn Dogmatismus die Debatte bestimmt und nur eine einzige Perspektive als legitim gilt, erstickt das den demokratischen Diskurs.

Mir war rational klar, worauf die Gewalt hinauslief: Es ging nie um (konstruktive) Kritik, sondern um Zermürbung. Sich für Dinge rechtfertigen müssen, die nichts mit der Realität zu tun haben, verschlingt die Ressourcen für wirklich wichtige Aufgaben. Das alles dürfte einem aus dem aktuellen Blick in die Politik bekannt vorkommen. Während er dort jedoch beispielsweise parlamentarisch eingehegt wird, sind dem digitalen Irrsinn in Kommentarspalten, Direktnachrichten und Insta-Stories keine Grenzen gesetzt. Misogyne Gewalt, die eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der generellen Entwertung von Frauen vermischt, ist dabei die Regel – nicht die Ausnahme. Vermutlich hätte ich all das noch „weggesteckt“.

Doch dann erhoben zwei ehemalige Mitglieder unseres internationalen Beirats[2] auf Social Media öffentlichkeitswirksam Vorwürfe gegen uns – wegen angeblichem Silencing und Mistreatment. Auch hier ging es um den Krieg im Nahen Osten. Über Wochen hinweg versuchten die beiden, meine Mitgeschäftsführerin Nina Bernarding und mich dazu zu bewegen, unsere Arbeit ihren Positionen anzupassen – ungeachtet unserer fachlichen Expertise, unserer Arbeitsfelder, Überzeugungen oder Netzwerke. Wir fügten uns nicht – nicht nur, weil keinerlei Ressourcen für eine entsprechende Arbeit zur Verfügung standen, sondern auch, weil wir mit ihren öffentlichen Positionen inhaltlich nicht übereinstimmten. Seit Oktober 2023 arbeiten wir zu dem Krieg so, wie es unserer Expertise, unserer Satzung und unserer Mission entspricht: unter anderem durch Projekte zu den Auswirkungen der Kriege in der Ukraine und in Gaza auf Völkerrecht, internationale Normen und Militarisierung. Wir machten deutlich, dass wir unsere Arbeit weiterhin entsprechend dieser Grundlagen gestalten werden. Die Auseinandersetzung eskalierte, weil wir uns dem Druck der beiden Beirätinnen nicht beugten. Eine andere Beirätin brachte es treffend auf den Punkt: „Kein gutes Gefühl, wenn man nur diese Wahl hat: Macht, was wir sagen – oder wir machen euch fertig.“

Die Vorwürfe des Mistreatment und Silencing zählen zu den schwerwiegendsten, die innerhalb der feministischen Bewegung erhoben werden können – und das mit gutem Grund. Zugleich sind sie schwer zu fassen: Jede Person, die sich aus irgendeinem Grund unwohl fühlt, kann dies als „Mistreatment“ interpretieren. Und wer sich in einer Diskussion nicht durchsetzt, kann dem Gegenüber schnell „Silencing“ vorwerfen. Gerade weil klare Definitionen fehlen, entfalten diese Begriffe eine enorme emotionale Wirkung – und mobilisieren entsprechend stark. Der von den ehemaligen Beirätinnen auf LinkedIn veröffentlichte Post wurde von der Meute auf Instagram begierig aufgegriffen, weitergedreht, zugespitzt, mit immer absurderen Hinzudichtungen versehen. Die Empörungsmaschinerie geriet außer Kontrolle. In der Folge wurden auch Personen aus unserem Umfeld – darunter sogar unsere Anwältin – öffentlich diffamiert. Aus gezielter digitaler Hetze wurde ein kollektiver Lynchmob, der erst dann Ruhe geben wollte, wenn wir vollständig zerstört wären. Das war kein Shitstorm. Ein Shitstorm ebbt ab. Das hier sollte ein Ende herbeiführen. Und so erlebten meine Mitgeschäftsführerin und ich körperliche Reaktionen, die wir zuvor nie gespürt hatten: wochenlange Panikattacken, völlige Erschöpfung, Zusammenbrüche. Freier Fall über Wochen. Digitale Gewalt bleibt nicht im Digitalen. Sie hat reale, fatale Konsequenzen.

Wir, die Geschäftsführerinnen von CFFP, entschieden uns, ein Statement zu veröffentlichen. Wir schrieben: Sich Forderungen nicht zu unterwerfen, ist kein Silencing. Und auch kein Mistreatment. Sondern unser Recht auf unabhängige Entscheidungsfindung. Unsere Expertinnen für Desinformation hatten uns vor einer Stellungnahme gewarnt: Lügen und Gewalt würden dadurch nicht aufhören. Und auch wenn wir diesem Rat nicht folgten, übergaben wir die entsprechenden Beweise wie E-Mail-Verläufe an die Stellen, wo sie hingehören: an Anwält:innen, investigative Journalist:innen[3] und Gerichte. An die Orte, an denen Urteile gefällt werden – nach Sorgfaltspflicht, Fakten und rechtsstaatlichen Prinzipien. Nicht auf Instagram. Nicht durch eine schlecht informierte entfesselte Masse, die die Lügen immer weiter in den sozialen Medien verbreitete und die Hetzjagd am Laufen hielt.

An diesem Punkt fühlte es sich an, als würde unser Büro von dieser entfesselten Masse in Brand gesetzt, alle Fenster eingeschlagen und alles verwüstet. Das gesamte Team war schwer getroffen, und wir als die Hauptbetroffenen wurden verbal ins Koma geprügelt. Immer wieder fragte ich mich: Hätten wir es als Gesellschaft akzeptiert, wenn der Mob nach Anwendung physischer Gewalt achselzuckend zur Rechtfertigung vorgebracht hätte: „Aber sie haben sich nicht so positioniert oder ihre Arbeit nicht so gemacht, wie wir es verlangt haben“? Wohl nicht. Warum war das dann digital möglich? Jedem muss klar sein: Digitale Hetzjagden können Menschen an den Rand ihrer psychischen Belastbarkeit und in die Verzweiflung treiben. Sie können Organisationen in kürzester Zeit vernichten.

Außer Kontrolle

Jede:r hat das Recht, unsere Arbeit kritisch zu sehen und mit unseren Positionen nicht einverstanden zu sein. Doch niemand hat das Recht, aus blinder Wut heraus Menschen und ihre Existenzgrundlagen zu zerstören. Vor einigen Jahren hielt der frühere US-Präsident Barack Obama bei einer Zusammenkunft der Obama Foundation eine Rede. Darin mahnte er an, sich nicht hinter ideologischen Mauern zu verschanzen. Man müsse auch mal mit Menschen ins Gespräch kommen, die andere Ansichten hätten. Der Kernsatz: „Wenn ich einen Tweet oder Hashtag poste, in dem ich dich kritisiere […], dann kann ich mich zurücklehnen und mich ziemlich gut fühlen […]. Aber wisst ihr, das ist kein Aktivismus. Das bewirkt keine echte Veränderung. Wenn ihr nichts anderes tut, als Steine zu werfen, kommt ihr wahrscheinlich nicht weit.”

Das Steinewerfen gegen uns ging weiter: Immer neue, haltlose Anschuldigungen tauchten in Form nichtssagender Instagram-Kacheln auf. Wir hätten Angestellte wegen ihrer pro-palästinensischen Haltung entlassen. Investigative Journalist:innen, die diesen Vorwurf sowie einen vermeintlich „offenen“, tatsächlich aber anonymen, Brief prüften, recherchierten vermeintlich Betroffene. Doch es fand sich niemand. Im Rahmen der juristischen Auseinandersetzung habe ich diese neuen Behauptungen durch eidesstattliche Versicherung als auch Personal- und Vertragsunterlagen klar widerlegt.  Doch all das hatte für die Anarchie von Social Media keine Relevanz. Der Mob zog einfach weiter, hin zu anderen Themen und Eskalationen. Einer der Hauptakteure, ein hasserfüllter, junger Mann hetzt(e) und postet(e) weiter, zu viele taten und tun es ihm gleich. Eine Handhabe gab und gibt es nicht. Der Hass schwappte von kleinen Accounts auf größere über, Personen mit zehntausenden Followern griffen die Diffamierungen auf, teilten sie in ihren Instagram-Stories. Organisationen riefen auf der Grundlage der Falschinformationen zum Boykott gegen uns auf, Geldgeber beendeten Projekte. Der substanzielle finanzielle Schaden war das Eine, das Andere noch schlimmer: Wir mussten sofort zwei Projektmanagerinnen entlassen, deren Gehalt vollständig über eines dieser Projekte finanziert war. Während sich selbst ernannte „linke Internetaktivist:innen“ in ihrem digitalen, den virtuellen Raum nie verlassenden Streifzug für intersektionale Gerechtigkeit feierten, zerstörten sie mit ihren Social-Media-Diffamierungen zugleich die Existenzgrundlage von zwei Frauen mit afghanischen Wurzeln – Frauen, die im Rahmen unseres Projekts konkret daran arbeiteten, die Situation von Frauen in Afghanistan zu verbessern.

Im nächsten Schritt wendeten sich Verbündete und befreundete Organisationen von uns ab. Nicht, weil sie glaubten, wir hätten etwas falsch gemacht. Im Gegenteil: Sie sagten uns offen, dass sie um die toxischen Tendenzen auch innerhalb der feministischen Bewegung wüssten, ebenso um die Dynamiken auf Social Media. Sie versicherten uns, dass wir lediglich eine Projektionsfläche seien. Und trotzdem könnten sie nicht mehr mit uns zusammenarbeiten. Die Angst, dass sich der Hass auch gegen sie richten würde, war zu groß. Mehrere Lesungen und Auftritte musste ich selbst streichen, andere wurden mir kurzfristig abgesagt. Und dort, wo ich dennoch auftrat, sahen sich Veranstalter:innen gezwungen, zusätzliche Sicherheitskonzepte in Erwägung zu ziehen. Über Monate hinweg kontaktierten die Angreifer:innen gezielt Partner:innen von mir und uns – mit der Aufforderung, sich zu distanzieren. Monatelang mussten wir beim CFFP unsere Website vom Netz nehmen – und ich meine Social-Media-Accounts deaktivieren. Zum Schutz vor weiterer digitaler Gewalt. Das ist der Versuch gezielter Existenzzerstörung.

Ständig der Gedanke: Was kommt als Nächstes? War die Auskunftssperre meiner Adresse im Melderegister, die ich aufgrund jahrelanger Online-Gewalt und Bedrohungen, insbesondere aus dem rechtsextremen Spektrum, beantragen musste, wirklich sicher? Würde morgen ein aufgebrachter Mob vor meiner Haustür stehen – oder vor unserem Büro? Waren unsere Familien sicher? Welche weiteren Projekte würden uns noch entzogen? Wer würde sich als Nächstes gegen uns stellen? Müssten wir weitere Mitarbeiterinnen entlassen? Würde die Organisation überleben?

Ich fragte mich immer wieder, warum der Hauptakteur und seine Mitläufer:innen nicht aufhörten. Die Antwort hat zwei Ebenen – eine soziologische und eine psychologische. Soziologisch gilt: Für kollektive Gewalt braucht es keine geschlossene Überzeugung aller Beteiligten. Es reicht, wenn Einzelne den Willen – oder die Lust – zur Vernichtung haben. Der Rest folgt. Bei den Mitläufer:innen genügen oft andere Motive: Empörung als Selbstbestätigung, der Wunsch nach Zugehörigkeit oder das Bedürfnis, auf der vermeintlichen Gewinnerseite zu stehen.

Aus früheren Jahrhunderten ist bekannt, dass gerade wenn es um Strafen ging, gern ein Spektakel für die Massen inszeniert wurde. Und die Massen folgten. Oft in bester Sonntagskleidung strömten sie zu öffentlicher Folter und Hinrichtungen. Heute lässt sich die Faszination, die für manche von Gewalt und Grenzüberschreitung ausgeht, ganz bequem (und sogar in Jogginghose) vor dem Rechner und am Smartphone erleben.

Philipp Hübls Buch Moralspektakel – Wie die richtige Haltung zum Statussymbol wurde und warum das die Welt nicht besser macht gab mir die Antwort auf die zweite Dimension, die psychologische. Am Boden liegend oder nicht, ich war immer noch öffentlich. Und Momente, in denen jemand öffentlich an den Pranger gestellt wird, sind für viele eine willkommene Gelegenheit, selbst Aufmerksamkeit zu bekommen, indem die eigene moralische Überlegenheit inszeniert wird. Ein Punktgewinn in einem perfiden moralischen Wettkampf, bei dem es nicht um Gerechtigkeit geht, sondern um Selbsterhöhung. Diese ist so billig zu haben: Es braucht vielleicht fünf Sekunden, um eine eine Instagram-Story zu teilen und schon ist das eigene moralische Prestige scheinbar gesichert, ohne den geringsten realen Aufwand betrieben zu haben. In Empathie und Widerstand spreche ich genau das an: Konstruieren ist anstrengend; zerstören ist einfach.

Und noch etwas sorgt dafür, dass für viele Menschen Social Media ideale Orte moralischer Entrüstung sind: Der längst verstorbene Philosoph Emmanuel Lévinas hat in Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen betont, dass es das Antlitz eines Gegenübers sei, das einen Tötungsversuch unterbinde – weil es an die Würde, die Verletzlichkeit und die Menschlichkeit des anderen erinnere. In den digitalen Räumen sozialer Netzwerke gibt es kein Gesicht des Gegenübers. „Dass dem, der gerade vernichtet wird, nicht in die Augen geschaut werden muss, vereinfacht die Sache. (…) Vielleicht sind sie [die sozialen Netzwerke] gerade deshalb so beliebt”, schreibt die Philosophin Svenja Flaßpöhler in ihrem Buch Streiten. Und Veronika Kracher, die sich wissenschaftlich mit digitalen Hetzkampagnen gegen Frauen beschäftigt, differenziert: Damit die Angreifer:innen sich nicht mit dem tatsächlichen Leid der Zielperson auseinandersetzen müssten, werde ihr Menschsein ausgeblendet. Sie werde nicht mehr als Individuum mit Gefühlen und Verletzlichkeit wahrgenommen, sondern als Verkörperung des Bösen dargestellt. Dies geschehe durch Projektion („Diese Person steht für alles Schlechte.“), durch Empathielosigkeit („Diese Person verdient jede Strafe und sollte nicht jammern.“) und durch die Reduktion auf ein eindimensionales Feindbild („Diese Person hat keine guten Seiten, sondern ist ausschließlich schlecht.“). Besonders perfide sei – als Spezifikum des digitalen Raums – die Memefizierung: Die betroffene Person werde zur Witzfigur gemacht, ihr Leiden in Form von schnell teilbaren Memes verhöhnt.

Wie bei historischen Lynchmobs spielen Beweise oder das Gebot der Fairness, auch die andere Seite zu hören, keine Rolle für die Be- oder Verurteilung des oder der Verfolgten. Während wir uns allerdings in der analogen Welt als Gesellschaft in einem emanzipatorischen Prozess über Jahrzehnte hinweg dahin entwickelt haben, dass es für rechtliche Verfolgung und Bestrafung klare Vorgaben gibt und auch öffentlich erhobenen Vorwürfe hohen journalistische Standards entsprechen und nachprüfbar sein müssen, existiert auf Social Media all das nicht.

Zwar bestehen theoretisch rechtliche Sorgfaltspflichten – doch ihre Durchsetzung ist oft schwer bis unmöglich. Ein wirksamer Schutz vor unbegründeten Anschuldigungen, wie wir ihn wiederholt und erfolglos bei Meta eingefordert haben, fehlt in der Praxis weitgehend. Auch journalistische Prüfstandards, wie sie bei klassischer Verdachtsberichterstattung gelten, greifen im digitalen Raum nur bedingt. In der Anarchie sozialer Medien lassen sich solche Standards kaum geltend machen. So kann im Internet nahezu jeder Person oder Organisation etwas vorgeworfen werden – ohne sachliche Grundlage und ohne reale Möglichkeit zur Verteidigung.

Dem Opfer digitaler Hasskampagnen und Hetzjagden wird so das Gefühl völliger Isolation und Machtlosigkeit gegeben. Das Urteil ist sofort gefällt, die öffentliche Exekution geschieht anschließend durch massenhafte Diffamierung, Drohungen und soziale Ächtung.

Diese Prozesse sind kein Zufall, sondern folgen den Mechanismen der Aufmerksamkeitsökonomie. Digitale Plattformen belohnen Empörung, Polarisierung und Eskalation – je radikaler die Anschuldigungen, desto größer die Reichweite. Das ist ihr Geschäftsmodell. Ergänzt wird die Rechnung durch einen weiteren Faktor: Geschlecht.

Dogmatismus + Misogynie = Hass²

Die Historikerin Claudia Opitz-Belakhal hat die Hexenverfolgungen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit statistisch und inhaltlich untersucht. Das Ergebnis: Während bei anderen schweren Delikten Frauen nur selten als Täterinnen in Erscheinung traten, waren sie je nach Region in 50 bis 90 Prozent der Hexenprozesse angeklagt. Die Frauenfeindlichkeit der Ankläger war Initialzündung, die misogynen Gerichtspraktiken, die mit dem „Hexenhammer“ ein Instrument der Unterwerfung von Frauen geschaffen hatten, der Brennstoff. Der aktuelle Umgang mit Frauen im Kontext von Lynchjustiz in den sozialen Medien ist vergleichbar.[4]

Der Frauenhass unserer Gesellschaft potenziert Gewalt geschlechtsspezifisch ins schier Unermessliche. So schrieb beispielsweise die PR-Managerin Melissa Nathan an die Publizistin von Schauspieler Justin Baldoni, Jennifer Abel, mit sichtbarer Genugtuung über den Erfolg ihrer Verleumdungskampagne gegen die Schauspielerin Blake Lively: „Es ist eigentlich traurig, weil es nur zeigt, dass es Leute gibt, die Frauen wirklich hassen wollen.“ Im vergangenen Jahr hatte sie, im Auftrag Baldonis, seine Schauspielkollegin gezielt zur Persona non grata gemacht – und die Strategie ging auf. Die allgegenwärtige Bereitschaft, Frauen zu hassen, ist eine tragende Säule unserer Gesellschaften, ein fester Bestandteil patriarchaler Strukturen. Wer sie für sich zu nutzen weiß, kann Frauen systematisch beschädigen – und wird dabei auf eine breite, oft unbewusste Komplizenschaft zählen können.

Das Ziel all dessen ist nicht nur die individuelle Zerstörung. Die eigentlichen Adressatinnen sind alle Frauen, die sich öffentlich äußern, stark und sichtbar engagieren. Sie sollten wissen: Du kannst die Nächste sein. Die Angst, die solche digitalen Hetzjagden auslöst, führt dazu, dass viele sich gar nicht mehr äußern oder keine Stellung beziehen – aus Selbstschutz, aus Erschöpfung, aus der leider wahren Erkenntnis, dass ein Mob, der sein Urteil längst gefällt hat, nicht mit Argumenten zu überzeugen ist. Genau deshalb ist es so gefährlich, wenn wir diese Mechanismen einfach hinnehmen oder uns gar selbst daran beteiligen. Denn das gefährdet nicht nur Frauen, sondern unsere Demokratie als solche.

Misogynie ist gesellschaftlich tief verankert. Fast alle haben sie verinnerlicht und wer sie nicht aktiv verlernt, reproduziert sie – oft unbewusst. Die Autorin Veronika Kracher hat sich intensiv mit enthemmter Online-Gewalt gegen Frauen befasst. Sie zeigt, dass selbst Menschen, die sich als progressiv und emanzipatorisch sehen, besonders linken Frauen gegenüber oft anmaßend, übergriffig und doppelmoralisch handeln. Warum? Weil sie es gelernt haben. Die permanente Bewertung und Verurteilung von Frauen ist gesellschaftlich so etabliert, dass sie kaum auffällt. Beispiele gefällig? Blake Lively, Meghan Markle, Amber Heard. Man muss diese Frauen nicht mögen, aber sie allein aufgrund ihres Geschlechts abzuwerten, wie es täglich medial geschieht – das ist Frauenhass. Besonders lukrativ ist der Moment ihres (vermeintlichen) Scheiterns. Die Lust daran, eine Frau „fallen“ zu sehen, ist tief in unsere Kultur eingebrannt. Nichts bereitet dem Patriarchat mehr Lust, als erfolgreiche Frauen scheitern zu sehen. Oder, um es mit Gloria Steinem zu sagen: „Men are liked better when they win. Women are liked better when they lose. This is how the patriarchy is enforced every day.”

CFFP Team
Teil des CFFP Teams im Dezember 2024. Manche Teammitglieder arbeiten remote, weshalb sie nicht auf dem Foto sind.

Unser Centre for Feminist Foreign Policy steht für das Gewinnen – es ist eine Erfolgsgeschichte. Es wurde von Frauen gegründet, wird von ihnen gestaltet und weiterentwickelt. In nur sieben Jahren haben wir aus dem Nichts eine sehr wirksame Menschenrechtsorganisation aufgebaut – mit zahlreichen Projekten, einem siebenstelligen Budget und einem engagierten Team von über einem Dutzend Mitarbeitenden, überwiegend Frauen. Wir haben die deutsche Außenpolitik mitgeprägt – hin zu einer feministischen Ausrichtung, die Frauenrechte und deren Finanzierung in den letzten Jahren stärker in den Fokus rückte. Unsere Arbeit reicht von Projekten zur Unterstützung von Frauen in Afghanistan und Opfern von Nukleartests bis hin zur Zusammenarbeit mit der queeren Community in Uganda. Wir stehen an der Seite von Aktivist:innen aus Belarus, Kenia, Argentinien, Kasachstan, der Ukraine und Russland – im Widerstand gegen autoritäre Regime. Wir haben Regierungen beraten, internationale Konferenzen organisiert, bei den Vereinten Nationen gesprochen – und maßgeblich dazu beigetragen, dass die Bedrohung durch globale antifeministische Netzwerke heute ernster genommen wird. Analytisch haben wir die internationale Debatte zu Gendered Disinformation vorangetrieben, die Verbindungen zwischen Antifeminismus und Rechtsextremismus analysiert und uns weltweit für eine feministischere Außen- und Sicherheitspolitik eingesetzt. Wir haben Voraussetzungen, Strukturen und Fakten geschaffen. Social Media dient dabei als wichtiges Kommunikationsinstrument unserer Arbeit – aber wir sind keine hauptamtlichen Content Creatorinnen. Unsere wirkliche Arbeit findet an anderen Orten statt.

Was ist die reale Leistung von solch hasserfüllten Akteuren und deren Gefolgschaft? Man hat eine digitale Kampagne gegen uns initiiert und befeuert, man hat Unterstützung gewonnen, indem man unsere Erfolge diffamiert hat. Man hat sich durch Erniedrigung anderer erhöht. Ich erlebe den Anführer als zutiefst frauenfeindlich – und sein Frauenhass wird für viele seiner Mitläufer:innen zum politischen Werkzeug. Der Versuch, diesen Hass mit scheinbar inhaltlicher Kritik zu rechtfertigen – auch aus dem linken Spektrum –, lässt eine gefährliche Allianz entstehen, die selbst Menschen beeinflusst, die sich eigentlich für Frauenrechte einsetzen.

In der Hoffnung, öffentliche Figuren zu finden, die feministische Ideale verkörpern, werden Perfektion und Unfehlbarkeit verlangt. Wird dieses Ideal nicht erfüllt, kippt Bewunderung in Abwertung. Patriarchale Reflexe greifen: Scheitern wird herausgestellt, die Betroffenen öffentlich lächerlich gemacht – möglichst laut, möglichst breit.

Wehe der Demokratie

Ich habe weiter oben beschrieben, wie wenig hundertprozentig Überzeugte es in Gruppen braucht, um Gewalt zu entfesseln. Neben den Täter:innen braucht es die aktiven Mitläufer:innen und die kuschende Mehrheit, das Publikum. Die Anstifter:innen – die Gewalt oft aus ideologischen Motiven, aber auch aus Lust an der Gewalt oder Frustration und mit aggressiven Methoden auslösen –, sind meist nur wenige Personen. Viel größer ist die Zahl derjenigen, die für diese Empörung empfänglich sind und sich ihr kommentierend oder likend anschließen (Mitläufer:innen). Noch größer die Masse derer, die zwar nicht aktiv teilnehmen, aber aus Unsicherheit oder Angst vor Gegenreaktionen schweigend zusehen oder sich von den Betroffenen distanzieren (kuschende Mehrheit). Gerade Menschen aus der letzten, größten Gruppe könnten den entscheidenden Unterschied machen, wenn sie Hass, Lügen oder Diffamierungen nicht mehr unkommentiert lassen würden.

Das zentrale Muster hinter solchen Verleumdungskampagnen wird als DARVO beschrieben – Deny, Attack, Reverse Victim and Offender. Erst wird die eigene Aggression geleugnet, dann aktiv angegriffen und schließlich die Täter-Opfer-Rolle umgedreht: Nicht mehr die gehetzte Person gilt als Opfer, sondern die Angreifenden selbst. Wehrhaftigkeit wird als Aggressivität umgedeutet. Dritte greifen das auf und verstärken die Dynamik – teils unbewusst. Sätze wie „Das musste ja passieren, so fordernd wie sie waren“, die über uns gesagt wurden, folgen der gleichen Logik wie klassisches Victim-Blaming – etwa wenn sexualisierte Gewalt mit einem „zu kurzen Rock“ erklärt wird. Opfern digitaler Lynchjustiz ist es oft nicht mehr möglich sich zu wehren, ohne dass dies gegen sie ausgelegt wird. Die Schäden für den demokratischen Diskurs sind verheerend: Für die betroffene Person gibt es schließlich keinen Ausweg aus dem Dilemma. Jede Reaktion – selbst die nüchternste Widerlegung von Lügen – wird als neuer Angriff gewertet. Wer sich verteidigt, zeigt damit angeblich „unreifes Verhalten“, ist „aggressiv“ oder „uneinsichtig“. Gleichzeitig kann Nicht-Reagieren ebenso problematisch sein, weil dadurch die Lügen und Diffamierungen unwidersprochen stehen bleiben und sich in der öffentlichen Wahrnehmung verfestigen. Man kann nichts richtig machen.

In den letzten Monaten habe ich mehrere Frauen kennengelernt, die in der Öffentlichkeit stehen und auch von dieser Form der Gewalt betroffen waren. Eine von ihnen erzählte, wie sie infolge einer Verleumdungskampagne monatelang depressiv im Bett lag, ihr gesamtes Einkommen verlor und schließlich – unter immensem Druck und in einem Zustand des Realitätsverlusts – ein Entschuldigungsvideo auf Social Media hochlud. Obwohl sie nichts hatte, wofür sie sich entschuldigen musste, war sie so zermürbt, dass sie nur noch wollte, dass die Gewalt aufhört. Doch das Video wurde vollständig zerrissen und diente als neuer Nährboden für noch heftigeren Missbrauch.

Was sich hier zeigt, sind die Muster eines erprobten gewaltvollen Vorgehens: Zuerst wird die betroffene Person systematisch negativ gezeichnet. Nur so lässt sich das konstruierte Feindbild aufrechterhalten – bis hin zu Angst, Einschüchterung und möglichem Realitätsverlust.

Als nächstes folgt die Diffamierung: Aussagen werden aus dem Kontext gerissen, übertrieben oder bewusst verfälscht. Teilweise werden sogar frei erfundene Lügen verbreitet – und geglaubt, weil sie bestehende Vorurteile bedienen.

Ist das Feindbild erst etabliert, kennt die Gewalt keine Grenzen mehr. Sexismus, persönliche Angriffe, obsessive Fixierungen, selbst direkte Bedrohungen werden plötzlich legitimiert – mit dem Argument, die Person habe all das „verdient“. Gewalt wird nicht nur hingenommen, sondern als Mittel für eine vermeintlich „gute Sache” gerechtfertigt.

Linker Dogmatismus: Von Emanzipation zu Irrweg

Besonders verstörend an meiner Geschichte ist, dass einer der Hauptakteure dieser Hetzjagd kein Unbekannter ist, sondern ein sich als „Linker“ darstellender junger Mann, der bereits seit Längerem für seinen Frauenhass berüchtigt ist: „Jonpeaceman“ (Jonathan Fridman). Bis vor einigen Monaten wies seine Instagram-Bio seinen Account als dezidierten Hassaccount gegen eine bekannte, erfolgreiche deutsche Menschenrechtsverteidigerin aus. Diese konnte erreichen, dass Fridman eine strafbewehrte Unterlassungserklärung wegen der Verbreitung falscher Tatsachen unterzeichnen musste. Zahlreiche Frauen waren bereits vor mir und uns Ziel seiner Angriffe – stets bedient er sich derselben Strategien der Diffamierung und digitalen Gewalt.

Es ist möglich, dass er, „Jonpeaceman“, nach der Veröffentlichung dieses Texts die misogyne Hassmaschine erneut anwirft. Denn der Widerspruch einer Frau genügt, und gewaltbereite Männer zünden die nächste Eskalationsstufe. „Jonpeacemans“ seit Monaten andauernden Diffamierungen, Lügen und Verleumdungen haben bereits existenziellen Schaden angerichtet – und tun es weiterhin.

Er ist der Anführer der Hetzjagd und veröffentlichte auch das bereits beschriebene Reel. Innerhalb von nur fünf Tagen rund um die Pressekonferenz veröffentlichte er über 50 Beiträge auf Instagram über mich und uns inklusive eines dreiminütiges Video, in dem er in die Kamera sprechend über uns herzieht. Wann immer er sich ein Ziel aussucht, entwickelt er eine regelrechte Besessenheit. Dieses Muster lässt sich bei ihm immer wieder beobachten.

Im analogen Leben würde man ein solches Verhalten als Stalking bezeichnen – und sich hoffentlich zur Wehr setzen können. In der digitalen Welt ist man solchen Hetzjagden weitgehend schutzlos ausgeliefert. Plattformen wie Meta entziehen sich jeder Verantwortung.

In diesen Beiträgen verbreitete er teils im Sekundentakt die bereits beschriebenen Lügen – über die Pressekonferenz, deren Finanzierung, unsere politische Haltung und unser Team. Und eine hasserfüllte Masse war bereit, sich seinem Feldzug gegen uns blind anzuschließen – und ihm jedes Wort zu glauben. Die Verdrehung von Tatsachen und das gezielte Lügen sind bei ihm längst Prinzip. Wir gingen dagegen juristisch vor.

Im März 2025 behauptete er gerichtlich gegen mich gewonnen zu haben. Tatsächlich entschied das Oberlandesgericht Hamburg lediglich, unseren Antrag auf ein Eilverfahren aus formalen Gründen nicht zuzulassen – angeblich wegen Fristversäumnis. Eine inhaltliche Bewertung seiner Aussagen fand nicht statt.

Diese Entscheidung spiegelt die bittere Realität vieler Frauen wider, die sich gegen (sexualisierte) digitale Gewalt juristisch zur Wehr setzen: Gerechtigkeit gibt es kaum. Obwohl klare Fristen fehlten, wurde unser Antrag als verspätet gewertet – weil wir auf Wunsch der Gegenseite (Sic!) über Wochen an einer Einigung arbeiteten, die „Jonpeaceman“ am Tag der geplanten Unterzeichnung platzen ließ. Diese Einigung hätte mir keine Gerechtigkeit gebracht, aber möglicherweise die Gewalt beendet. Es wirkt eindeutig so, als habe er es bewusst darauf angelegt, unsere Chance auf rechtlichen Schutz zu verringern.

Hinzu kommt: „Jonpeaceman“ scheint gezielt rechtliche Konsequenzen zu umgehen. Er ist aus Deutschland abgemeldet und gibt an, sich im Ausland aufzuhalten. Gleichzeitig konnten wir nachweisen, dass sein Name weiterhin am Klingelschild eines klar zuzuordnenden Wohnsitzes in Deutschland steht – was eigentlich eine zustellungsfähige Adresse darstellen sollte, die für ein juristisches Verfahren nötig ist. Dennoch bestreiten er und seine Anwälte dies und verweigern darüberhinaus die Erteilung einer Vollmacht, die eine offizielle Zustellung ermöglichen würde. Alles deutet darauf hin, dass hier systematisch versucht wird, sich straf- und zivilrechtlicher Verantwortung zu entziehen. Weitere Verfahren laufen.

Er meidet gerichtliche Auseinandersetzungen, taucht nie persönlich auf, stellt sich keiner direkten Konfrontation. Statt gesellschaftlich Verantwortung zu übernehmen, betreibt er einen feigen Sofa-Aktivismus, der nicht auf Aufklärung oder Veränderung abzielt – sondern einzig auf Zerstörung.

Viele Frauen – auch über Deutschland hinaus – empfinden „Jonpeaceman“ als ernsthafte Bedrohung. Und doch gibt es auch Menschen, die sich als Feministinnen verstehen und ihn öffentlich unterstützen. Etliche prominente „feministische“ Autorinnen, Aktivistinnen und Content Creatorinnen befeuern gezielt die von ihm initiierte Gewalt, indem sie seine Aussagen nicht hinterfragen, sondern teilen. Sie hetzen mit.

So hat beispielsweise die Autorin Emilia Roig nicht nur falsche Behauptungen über uns verbreitet und zur „Solidarität mit Jonpeaceman“ aufgerufen, sondern forderte auch ihre zehntausenden Follower:innen auf, seine GoFundMe-Kampagne zu unterstützen. Dort sammelte er Spenden für angebliche „SLAPP lawsuits“ – Klagen, die aus seiner Sicht dazu dienten, um Kritik zu unterdrücken. Doch der Begriff wird hier gezielt missbraucht: Es handelt sich nicht um Einschüchterungsklagen, sondern um notwendige und legitime juristische Schritte mehrerer Frauen – auch von uns – die sich gegen gezielte Diffamierung und digitale Gewalt zur Wehr setzen. Solche Verfahren sind rechtsstaatlich verankert und dienen dem Schutz der angegriffenen Personen.

Etliche „Feministinnen“ feiern also einen Frauenhasser. Beachtliche Teile einer ehemals emanzipatorischen Linken verfallen zunehmend in autoritären Dogmatismus – mit zerstörerischen Folgen für alle, die nicht in ihr starres Weltbild passen. Warum? Aus ideologischen Gründen. Die Philosophin Susan Neiman beschreibt diesen Vorgang in ihrem Buch Links ist nicht woke: Autoritäre Tendenzen innerhalb der Linken führten ideengeschichtlich zunehmend zur Annäherung an rechte Denkmuster. Grundwerte einer linken Weltanschauung – wie das Streben nach Gerechtigkeit oder Universalismus – würden abgelöst durch Machtstreben und ein identitäres Stammesdenken: Wir gegen sie.

Eine ähnliche Analyse liefert Jens Balzer in After Woke. Er schreibt: „Im postkolonialen Wahrheitsregime, in dem Menschen strikt ‘along the color lines’ in Schwarz und Weiß eingeteilt werden, werden jüdische Menschen als privilegierte weiße Menschen betrachtet – und damit auf die Seite der Unterdrücker oder Kolonialisten gestellt […]. Wer sich auf dieser Seite befindet, hat entsprechend gar kein Anrecht mehr, seine eigenen Diskriminierungserfahrungen zur Sprache zu bringen.“ Das erklärt laut Balzer auch, warum viele sogenannte woke, hypersensible, postkoloniale Akteur:innen nach dem 7. Oktober nicht willens oder in der Lage waren, den Terror der Hamas politisch klar einzuordnen. „Dazu waren sie schlicht zu überzeugt von ihrem manichäischen Weltbild, von der Einteilung der Welt in Unterdrücker und Unterdrückte – und von ihrer moralischen Überlegenheit, von der unangreifbaren Wahrheit ihrer Überzeugungen.“

Dieses starre Weltbild wird von autoritär-dogmatischen Linken getragen. Auf diesem Weg wird Feminismus zum Nebenwiderspruch erklärt – Mitglieder patriarchal-faschistoider Gruppen wie der Hamas werden zu Freiheitskämpfern verklärt, und frauenfeindliche digitale Gewalt gegen jene, die sich diesem Dogmatismus widersetzen, billigend in Kauf genommen.

Gewalttätige Männer werden in dieser Lesart des Aktivismus allein deshalb akzeptiert, weil sie der eigenen Ideologie dienen. Männer, die schlimmste Gewalt gegen Frauen ausüben – und Teile der Linken machen mit. Gerade erst hat die Netflix-Serie Adolescence einem breiten Publikum die erschütternden Folgen von toxischer Männlichkeit und der Radikalisierung junger Männer durch Social Media vor Augen geführt. Meine Haltung dazu ist glasklar: Ich werde niemals einen misogynen Feminismus akzeptieren.

Die Zukunft der Demokratie im Digitalen

Unsere Arbeit – sowohl die institutionelle als auch meine persönliche – darf und soll kritisch hinterfragt werden. Über die Jahre gab es immer wieder konstruktive Kritik, auf die wir reagiert haben: Wir haben unsere Strategie überarbeitet, Programmbereiche beendet[5], interne Prozesse gemeinsam mit Expert:innen verbessert und Positionen neu definiert. Konstruktive Kritik und respektvolle, demokratische Debatten sind essenziell, um Themenfelder weiterzuentwickeln und bessere Lösungen zu finden. Doch genau dies findet leider gerade in der digitalen Welt oft nicht statt, sondern gezielte Diskreditierung. Im konkreten Fall ist das für uns existenziell bedrohlich, allerdings kein Einzelfall.

Die Welt steuert auf eine Bedrohungslage zu, die direkt aus dem Zustand digitaler Debattenkultur erwächst. Darauf verweist auch Eva Menasse in ihrem Buch Alles und nichts sagen – Vom Zustand der Debatte in der Digitalmoderne, das die Folgen der Digitalisierung für unsere Kommunikation analysiert. Sie beobachtet, dass Ansprüche, Ungeduld und Hass zunehmen, während der Raum für Nuancen schrumpft. Es sei zur Gewohnheit geworden, nicht mit der Gegenseite zu argumentieren, sondern diese zu delegitimieren – der „andere“ werde als minderwertig markiert, um ihn symbolisch zu „beseitigen“. Eine Sprache, die aus der Kriegsrhetorik stammt.

Wenn Menschen erst einmal öffentlich „fertiggemacht“ wurden, beginnt ein weiterer Prozess: Je öfter falsche oder überzogene Anschuldigungen inszeniert werden, desto größer wird die Skepsis gegenüber tatsächlichen Fällen von Gewalt und Diskriminierung. Das schwächt nicht nur die demokratische Kultur, sondern trifft besonders feministische und antirassistische Bewegungen – jene, die auf Differenzierung, Glaubwürdigkeit und den Schutz von Betroffenen angewiesen sind. So droht eine gefährliche Verengung des demokratischen Spektrums.

Wenn solche Mechanismen diejenigen zerstören, die sich für gesellschaftlichen Fortschritt einsetzen, wer soll dann noch den Mut haben, sich zu engagieren? Wer wird in finanzieller Unsicherheit eine gemeinnützige Organisation gründen, Strukturen aufbauen, Fundraising betreiben, Netzwerke knüpfen, Projekte realisieren, Menschen rekrutieren, politische Verbündete gewinnen, jahrelang forschen, Kompromisse eingehen, Strategien entwickeln – wenn ein Kachel-Aktivismus-Lynchmob all das in kürzester Zeit vernichten kann? Wer wird die politische Strukturarbeit leisten, wenn die sogleich so lustvoll zerstört wird?

Der Mob braucht Influencer:innen: Diese Menschen sind durch ihre enorme digitale Reichweite charakterisiert und besitzen ein gezieltes Verständnis für Plattform-Algorithmen. So prägen sie öffentliche Diskurse und können Gemeinschaften mobilisieren – für positive Zwecke ebenso wie für die Verstärkung problematischer Inhalte. Intensiv befasst sich die Wissenschaftlerin Katja Muñoz von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik mit diesem Phänomen und analysiert in ihrem Policy Paper Influencers and Their Ability to Engineer Collective Online Behavior die Folgen dieser Entwicklung. Sie weist nach, dass neben den wenigen „Großmächten“ in den sozialen Medien auch sogenannte „Mittelmächte“ existieren – also Accounts mit nur wenigen Tausend Followern –, die ebenfalls einflussreich sind. Auch Eva Menasse beschreibt in Alles und nichts sagen treffend die zerstörerische Dynamik der und die Angst vor den missgünstigen, zynischen „Twitter-Groß- und -Mittelmächten, den bedeutendsten Instagramern und Meinungsführern aller Plattformen“. Sie illustriert, wie diese Mechanismen funktionieren: „Wenn zehn von denen twittern, dass die NGO Soundso transphob/antisemitisch/rassistisch ist, dann haben wir wirklich ein Problem.“ Oder noch deutlicher: „Die können uns fertigmachen.“ Sobald aber jemand darauf hinweise, dass diese Vorwürfe nachweislich falsch seien, folge betretenes Schweigen – und dann der alles entlarvende, aber gleichzeitig schwer angreifbare Satz: „Darum geht es nicht.“

In einer Zeit des schwindenden Vertrauens in traditionelle Institutionen haben sich solche „Mächte“ als alternative Vertrauensquellen etabliert. Mit ihrer Fähigkeit, Reichweite gezielt einzusetzen und Themen zu besetzen, bestimmen sie zunehmend den Online-Diskurs – und beeinflussen damit gesellschaftliche Dynamiken in der realen Welt. Durch ihre digitale Präsenz ist zudem ein orchestriertes Vorgehen – auch in Hasskampagnen – viel leichter möglich als in der persönlichen Diskussion. Zudem würden, so Muñoz, die digitalen Positionierungen „gezielt genutzt, um soziale Trends in der politischen Kommunikation in großem Maßstab zu steuern – ein besorgniserregender Faktor für die Integrität des demokratischen Diskurses“.

Es stellt sich zunehmend heraus, dass Menschen nicht zwingend Wert darauf legen, ob die Informationen, die sie lesen und weiterverbreiten, tatsächlich richtig sind. Sie wollen bestimmten Quellen – so auch Influencer:innen – glauben. Und deren wünschenswerte Charakteristik ändert sich: Vertrauen wird in der Gegenwart oft nicht mehr durch journalistische Sorgfaltspflichten oder faktenbasierte Recherche definiert, sondern durch persönliche Bindung und emotionale Übereinstimmung. Damit Hasskampagnen, orchestrierte Online-Mobs und letztlich digitale Lynchjustiz weniger oder bestenfalls keine Durchschlagskraft haben, bräuchte es eine resiliente Informationsgesellschaft. Eine Gesellschaft, die gegen Desinformation, Manipulation und digitale Bedrohungen widerstandsfähig ist. Dazu gehören aber robuste Mechanismen der Wahrheitsfindung, kritische Medienkompetenz in der Bevölkerung und der Schutz demokratischer Diskurse. Doch davon sind wir leider weit entfernt.

Das ist einerseits Folge einer Medien(aus)bildung, die der sich überstürzenden technischen Entwicklung weit hinterherhängt, andererseits das Resultat neurologischer Vorgänge. Der Journalist Maik Großekathöfer fasst in seinem Spiegel-Beitrag Im Labyrinth der Lügen die Studienlage folgendermaßen zusammen: Unser Gehirn sei darauf programmiert, Fake News als besonders attraktiv wahrzunehmen. Studien zeigten, dass Falschmeldungen in sozialen Netzwerken deutlich schneller und weiter kursierten als wahre Nachrichten. Falschinformationen verbreiten sich besonders schnell, weil sie starke negative Emotionen auslösen – sie binden unsere Aufmerksamkeit und wirken dadurch glaubwürdiger. Hinzu kommt: Unser Gehirn stuft mehrfach wiederholte Inhalte als wahr ein, unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt. Wenn etwas nur oft genug gesagt wird, bleibt etwas hängen.

Ein weiterer Faktor ist sozialer Druck: Menschen fühlen sich unwohl, wenn sie mit ihrer Meinung alleinstehen, und orientieren sich an der Mehrheit. Je mehr Likes, Shares oder Kommentare eine falsche Information erhält, desto eher wird sie für glaubwürdig gehalten – und weiterverbreitet. Verstärkt wird das durch soziale Medien, die in Echokammern vor allem das zeigen, was zur eigenen Weltsicht passt.

Das machen sich vor allem die weniger komplex argumentierenden und darum weniger mit Widersprüchlichkeiten belasteten politischen Extremist:innen und dabei besonders die (undemokratische) Rechte zunutze. Und wir werden mit der weit verbreiteten Kompromisslosigkeit, ohne die Fähigkeit, Allianzen zu bilden und Brücken zu schlagen, zu ihrem besten Steigbügelhalter. Denn während Linke und Feminist:innen sich gegenseitig zerfleischen, verbündet sich die undemokratische Rechte schnell, strategisch und effizient – und schaut genüsslich zu, wie sich die demokratische Mitte und gemäßigt linke Bewegungen selbst zerstören.

Es gibt keine Rechtfertigung für zerstörerische Hetze

Genauso, wie Menschen sich historisch gegen Willkür, (patriarchale) Gewalt und Lynchjustiz gewehrt haben, müssen wir auch heute solche Phänomene entlarven und ihnen entgegentreten. Dafür müssen wir die Prinzipien unseres rechtsstaatlichen demokratischen Zusammenlebens in die digitale Welt übertragen. In der analogen Realität gilt es als selbstverständlich, dass jede:r das Recht hat sich zu verteidigen und gehört zu werden (audio et altera pars). Im digitalen Raum aber wird dieses Prinzip ausgehebelt – dort herrscht der Mob, nicht das Recht, nicht einmal ein Mindestmaß an Fairness.

Die Mühlen der Gesetzgebung mahlen langsam, und es bedarf erheblicher Anstrengung, um digitaler Gewalt wirksam mit den Mitteln des Rechts zu begegnen. Doch manches lässt sich sofort tun: Wir dürfen uns nicht von Angst leiten lassen. Wir müssen Räume für differenzierte Debatten verteidigen, kritisch hinterfragen, was wir online lesen, soziale Medien und ihre Verstärkungseffekte reflektieren, Projektionen erkennen – und uns weigern, Teil eines Systems zu werden, das nicht nach Gerechtigkeit sucht, sondern nach Vernichtung. Denn wer heute schweigt, könnte morgen selbst zum Ziel werden.

Wer Demokratie, Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit verteidigen will, darf digitale Lynchjustiz nicht als „Kritik“ verharmlosen. Die Schlinge um die Zivilgesellschaft – besonders um die feministische – zieht sich immer enger. Unsere Arbeit war nie bequem, aber heute ist der Raum für feministische und menschenrechtliche Arbeit enger denn je – weltweit. Beispiele aus dem demokratischen und demokratiegefährdenden Spektrum gefällig?[6] Rechte Medien fordern ungeniert, dass NGOs an den Pranger gestellt und in ihrer Arbeit sabotiert werden. Budgets für Entwicklungszusammenarbeit und Menschenrechtsprojekte sowie Frauenrechtsarbeit werden gekürzt oder sogar vollständig gestrichen. Der globale Schwenk ins Autoritäre und Rechtsextreme stellt aktuell die größte Gefahr für feministische und zivilgesellschaftliche Arbeit dar. Gerade deshalb ist es besonders besorgniserregend, wenn auch Teile der politischen Linken autoritäre Tendenzen übernehmen und so zu einer zusätzlichen Bedrohung werden. Es ist absurd: Die Welt brennt – Kriege und Konflikte auf Rekordniveau, Autokraten und Rechtsextreme zerlegen Demokratien im Eiltempo. Doch manche Linke haben offenbar nichts Besseres zu tun, als eine der wenigen neu gegründeten, erfolgreichen und wirksamen feministischen NGOs anzugreifen und zu diffamieren. Ich wünschte, nicht Hass und Empörung, sondern Anstand und Menschlichkeit würden viral gehen. Nichts darf jemals zerstörerische Hetzjagden rechtfertigen.

[1] Kürzlich hat das Yuval Noah Harari überzeugend in seinem Buch Nexus am Beispiel des Völkermords an den Rohingya in Myanmar belegt. Menschliche Initiative und digitale Algorithmen bildeten dort eine unheilvolle Allianz – für die sich niemand verantwortlich zeigte und niemand belangt werden konnte.

[2] Der Beirat war kein Bestandteil der formalen Organisationsstruktur; seine Mitglieder hatten keine rechtlichen Befugnisse oder Verpflichtungen, sondern fungierten vielmehr als freiwilliges Beratungsgremium.

[3] Seit Ende letzten Jahres recherchiert ein Team von Zeit Online und wir hoffen auf baldige Veröffentlichung.

[4] Historisch genügte oft der bloße Verdacht: Eine Frau könnte eine Hexe sein – schon setzte eine tödliche Maschinerie ein. Beweise waren überflüssig, Verteidigung kaum möglich. Das Urteil fiel schnell, der Scheiterhaufen war das Ende. Auch die rassistischen Lynchmorde in den Südstaaten der USA folgten dieser Logik: öffentliche Gewaltakte, selten legal, aber kaum geahndet – sie geschahen unter dem schweigenden oder zustimmenden Blick der Mehrheit. Unrecht, das sich als Gerechtigkeit tarnte. In beiden Fällen wurde nicht nur ein Mensch vernichtet, sondern eine ganze Gruppe eingeschüchtert. Was früher durch institutionelle oder gesellschaftliche Duldung geschah, findet heute eine digitale Entsprechung: Aus dem Kontext gerissene Aussagen, gezielte Unterstellungen und manipulative Narrative reichen, um Menschen öffentlich zu diffamieren, zu ächten und sozial zu vernichten. Die Mechanismen sind alt – das Medium ist neu. Doch die Dynamik, mit der sie wirken, bleibt erschreckend ähnlich.

[5] Beispielsweise zu Anti-Rassismus und dekolonisierte Außenpolitik: Uns wurde vorgeworfen, wir würden Schwarzen Feministinnen den Raum wegnehmen – sie sollten stattdessen lieber zu diesen Themen arbeiten. Als wir unsere Arbeit in diesem Bereich daraufhin einstellten, wurde uns wiederum „weißer Feminismus“ vorgeworfen.

[6] Die Union diskreditierte im Februar 2025 mit ihrer 551 Fragen umfassenden Kleinen Anfrage gezielt die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen; Rechtsaußen-Medien wie „Nius“ riefen Mitarbeitende von NGOs öffentlich dazu auf, sich als „Whistleblower:innen“ zu betätigen, um die Arbeit dieser Organisationen an den Pranger zu stellen und sie als staatsfeindliche Akteur:innen zu diffamieren.

 

Bibliografie:

Chimamanda Ngozi Adichie: It is obscene: A true reflection in three parts
Jens Balzer: After Woke
Omri Böhm: Radikaler Universalismus. Jenseits von Identiät
Rutger Bregman: Moralische Ambition. Wie man aufhört, sein Talent zu vergeuden, und etwas schafft, das wirklich zählt
Svenja Flaßpöhler: Streiten
Maik Großekathöfer: Im Labyrinth der Lügen
Yuval Noah Harari: Nexus. Eine kurze Geschichte der Informationsnetzwerke von der Steinzeit bis zur künstlichen Intelligenz
Philipp Hübl: Moralspektakel. Wie die richtige Haltung zum Statussymbol wurde und warum das die Welt nicht besser macht
Veronika Kracher: Instagram Profil “vero_kracher”
Emmanuel Lévinas: Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen
Sineb El Masrar: Heult leise, Habibis. Wie Ignoranz und Dauerempörung unsere Gesellschaft spalten
Jagoda Marinić: Sanfte Radikalität. Zwischen Hoffnung und Wandel
Eva Menasse: Alles und nichts sagen. Vom Zustand der Debatte in der Digitalmoderne
More In Common: Progressive Activists
Katja Muñoz: Influencers and Their Ability to Engineer Collective Online Behavior
Susan Neiman: Links ist nicht Woke

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